Finster, eng, verschmutzt und verwahrlost – gegen Ende des 19. Jahrhunderts ließen die elenden Wohn- und Lebensverhältnisse großer Bevölkerungsteile in den gesichtslosen Hinterhöfen der Mietshäuser soziale und gesundheitspolitische Probleme in Deutschlands Städten gären. Das galt in besonderem Maße für Berlin, die traurige “größte Mietskasernenstadt der Welt“.
Auf der Suche nach Lösungen nahmen Sozialreformer, fortschrittlich denkende Architekten und Städteplaner mit Begeisterung ein aus England stammendes Stadtentwicklungskonzept auf: die Idee der Gartenstadt. Stadt und Natur sollten in neuen Siedlungen außerhalb der Innenstädte vereint werden, als ideale Wohnform galt dafür das (Einfamilien-)Häuschen mit privatem Garten zur Selbstversorgung mit frischen Obst und Gemüse. Durch genossenschaftlich organisiertes Grundeigentum und effizientes Bauen wollte man die Kosten niedrig halten und so gerade den ärmeren Bevölkerungsschichten ein gesundes Leben mit Licht, Luft und Sonne ermöglichen.
Um 1900 begannen reformorientierte Bauvereine sowie gemeinnützige Genossenschaften und Entwicklungsgesellschaften diese Konzepte in die Realität umzusetzen. Eine davon war die „Berliner Landwohnstättengesellschaft“ . Von vermögenden, sozial gesonnenen Bürgern als gemeinnütziges Unternehmen gegründet, erwarb die Gesellschaft 1906 in Altglienicke ein Grundstück. Das zwischen der Germanen- und der Preußenstraße gelegene Areal sollte nach der Gartenstadtidee mit einer Siedlung für Arbeiterfamilien bebaut werden.
Das Vorhaben wurde in zwei Bauabschnitte unterteilt. Für die Planung des ersten, an der Germanenstraße gelegenen Teils beauftragte man die Berliner Architektursozietät Max Bel & Franz Clement. Die beiden Architekten hatten sich mit einem Projekt in Charlottenburg einen hervorragenden Ruf im reformorientierten Wohnungsbau erworben. Die Fortsetzung der Siedlung zur Preußenstraße hin wurde in die Hände Hermann Muthesius gelegt. Der Architekt hatte sich vor allem durch den Bau von (groß-)bürgerlichen Villen im englischen Landhausstil einen Namen gemacht, galt aber seit einem mehrjährigen Aufenthalt in London als Verfechter der englischen Reformarchitektur und des Gartenstadtkonzepts. Zudem hatte er in Dresden bereits bei der Realisierung eines solchen Projekts, der Gartenstadt „Hellerau“, mitgewirkt. Das Revolutionäre der neuen Siedlung beschrieb Muthesius 1912 so: „Jeder Arbeiterfamilie ihr Haus mit Garten zuzuteilen, die ganze Anlage auf volkswirtschaftlich richtige Grundlage zu stellen, d.h. auf Rentabilität auszurichten, und die neue Siedlung nach den besten städtebaulichen, d.h. künstlerischen, technischen, wirtschaftlichen und hygienischen Gesichtspunkten zu gestalten, das ist das Neue, was gegenüber den früheren Arbeiterkolonien eine (solche) Gartenstadt kennzeichnet.“
Die Entwürfe
Die beiden Architekturbüros setzten die Aufgabenstellung unterschiedlich um. Bel und Clement sahen für ihren Bauabschnitt eine aufgelockerte Einzelhausbebauung im „malerischen Landhausstil“ vor, die auffallend an die damals so beliebte englische Land- und Dorfarchitektur erinnert. Der Zugang erfolgte von der Germanenstraße über zwei Privatstraßen. Die beiden Architekten planten unterschiedliche Haustypen: Doppelhäuser, Vierfamilienhäuser und als besonderer Blickfang direkt an der Germanenstraße ein Verwalterhaus mit pittoreskem Türmchen. Ziergiebel, Erker und Balkone aus massiven Eichenholz setzen Akzente. Eingebettet in die sie umgebenden Gärten bieten die verschiedenartigen Bauten dem Auge eine wohltuende Formenvielfalt und vereinen sich dennoch gleichermaßen zu einem harmonischen landschaftlichen und architektonischen Ensemble mit dörflichem Charakter.
Im Gegensatz zu Bel/Clement setzte Hermann Muthesius auf eine geschlossene Reihenhausbebauung. Er gruppierte fünf Häuserkomplexe um einen großen zentralen Innenhof, der durch einen Privatweg von der Preußenstraße aus erschlossen wird. Am südlichen Ende des Hofes erweitert sich dieser Weg zu einem Platz. Durch zwei Torbögen gelangt man dann auf die beiden Privatstraßen, die durch den ersten Bauabschnitt bis hin zur Germanenstraße führen. Muthesius verzichtete auf jegliche ostentative Schnörkel. Türen und Fenster gliedern die Fassaden, der helle Putz hebt sich kontrastreich von Dächern aus roten Dachziegeln und dem sichtbaren, aus roten Backsteinen gemauerten Gebäudesockel ab. Wie ein visueller Gurt verbindet ein schmales Gesims zwischen Erd- und Obergeschoss die Häuser zu einer optischen Einheit. Der stetige Wechsel zwischen Giebel und Trauf sowie unterschiedliche Giebelhöhen sorgen für eine ausgewogene Belebung der ruhigen Fassaden und geben jedem Haus eine individuelle Note.
Vergleicht man die beiden Bauabschnitte der Preussensiedlung, so ist Muthesius Entwurf sicherlich die eindeutig „städtischere“ Interpretation des Gartenstadtgedankens. Deren Grundgedanken wird aber in beiden Bauabschnitten konsequent Rechnung getragen:
1. Jede Familie erhält ihr eigenes Heim mit eigenem Garten, der in erster Linie der Subsistenzwirtschaft – dem Anbau von Obst bzw. Gemüse und dem Halten von Kleinvieh – und in zweiter Linie der Erholung dienen soll.
2. Es wird effizient gebaut. Die Wohnfläche der einzelnen Einheiten ist mit durchschnittlich etwa 65 Quadratmetern zwar auf ein Minimum reduziert. Die rechteckigen (Bel und Clement) bzw. quadratischen Grundrisse (Muthesius) ermöglichen jedoch eine optimale Aufteilung und Nutzung des Raumes. In der Regel befindet sich im Erdgeschoss Wohnküche und Stube, das Obergeschoss ist zwei Schlafräumen vorbehalten. Eine solche Trennung der Wohnung in zwei Bereiche mit einem unterschiedlichen Grad der Privatheit ist zuvor nur dem Bürgertum vorbehalten gewesen. Wenn man eines der Häuser betritt, hat man tatsächlich das Gefühl, in einem wesentlich größeren Haus zu sein – es sind echte Raumwunder.
3. Obwohl die gesamte Planung auf Sparsamkeit ausgerichtet ist, entwerfen die Architekten wie bereits beschrieben die Bauten auf künstlerisch und ästhetisch hohem Niveau. Das zeigt sich zum einen daran, dass die einzelnen Häuser keineswegs uniform gestaltet wurden sondern jedes Einzelne einen gewissen Grad an Individualität aufweist – mal ist es die Dachform, mal der Erker, mal der Balkon, mit dem es sich von den Nachbargebäuden unterscheidet. Zum anderen wird die Qualität von Konzeption und Bauausführung auch in vielen „kleinen“ Details deutlich: beispielsweise wurden die ursprünglich als Lagerraum und als Stallfläche für Kleintiere vorgesehenen Anbauten eben nicht als billige Holzverschläge angelegt sondern von Beginn an in das Gesamtdesign mit einbezogen und mit denselben Materialien wie die Haupthäuser gebaut.
4. Schließlich gelingt es sowohl Bel/Clement als auch Muthesius mit ihren Entwürfen Nähe zu Natur und Landschaft zu vermitteln. Die Gebäude wurden nicht irgendwie auf die grüne Wiese gesetzt, sondern Garten und Haus sind stets bewusst zusammen geplant und gestaltet worden. Die Häuser stehen zumeist nicht direkt an die Straßen bzw. Wege, sondern liegen etwas zurückgezogen in den Gärten oder hinter Vorgärten, die man erst durchqueren muss, um zum jeweiligen Haus zu gelangen.
Knapp 100 Jahre nach ihrem Bau steht die Preussensiedlung heute als ein herausragendes und frühes Beispiel der Berliner Gartenstadt-Architektur unter Denkmalschutz. Nach Jahren des Verfalls wird das Gebäudeensemble in den nächsten Jahren von Grund auf saniert. Dabei wird nach Auskunft des ausführenden Bauträgers Terraplan nicht nur größter Wert auf die denkmalschutzgerechte Restaurierung der Gebäude sondern auch auf die Wiederherstellung der Garten- und Außenanlagen nach historischem Vorbild gelegt. Wenn die Arbeiten durchgeführt sind, dürfte die Preussensiedlung dann mindestens in genauso hellem Glanz erstrahlen wie die berühmte, von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannte Altglienicker Gartenstadt-Schwester, die nahegelegene Bruno-Traut-Siedlung, die wegen ihrer Farbgebung auch „Tuschkastensiedlung“ genannt wird.
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