Die Lockrufe des Neuen Westens waren unwiderstehlich. Zumindest für das aufstrebende Bürgertum, für Kaufmänner, Fabrikanten, Bankiers, Künstler, Literaten. Es ging zwar nicht zum Nugget-Sieben nach Klondyke. Es ging nur nach Charlottenburg und Schöneberg. Aber diese beiden Städte westlich des Großen Thiergartens boomten. Denn sie hatten etwas zu bieten, was Anfang des 20. Jahrhunderts im so starren wilhelminischen Berlin wohl noch seltener und kostbarer war als pures Gold in Alaska: unerhörten Freiraum für Experimente und Visionen, gleich ob philosophischer, künstlerischer, unternehmerischer, architektonischer oder gesellschaftlicher Art. Hier war der mächtige, bedrückende Kasten des Hohenzollernschlosses in Berlins Mitte außer Sichtweite. Hier konnte man ohne allzu viel Rücksicht auf alte Konventionen ganz ungehindert auf andere Gedanken kommen. Und sie ausprobieren!
Der Kudamm war Kult
Nichts symbolisierte das unbändige Lebensgefühl des Neuen Westens mehr als seine zentrale Achse. Erst wenige Jahre zuvor auf Geheiß Bismarcks entlang jenes alten Dammwegs entstanden, über den einst die brandenburgischen Kurfürsten von Berlin zum Jagen in den Grunewald ritten, zog nun ein breiter Boulevard die Menschen wie magisch an: der Kurfürstendamm. Das östliches Ende der prächtigen Straße wurde von einem gigantischen Konsumtempel überragt, ausladender und luxuriöser als alles bisher Dagewesene. Im Kaufhaus des Westens (KadeWe) ließen sich Kunden aus allen Schichten gern verführen. Auch am westlichen Ende des Kurfürstendamms wurde nicht mit Reizen gegeizt. Hier köderte der Lunapark die vergnügungssüchtigen Städter mit stets sensationellen Attraktionen. Tausende strömten täglich in den riesigen Freizeitpark – und am Wochenende noch viel mehr.
Zwischen KadeWe und Lunapark gab es nicht nur Platz für Geschäfte, Restaurants und Theater aller Facetten, sondern auch genug Raum für ganz besondere gesellschaftliche Biotope. Zum Beispiel an der Ecke Joachimstahler Straße: hier lag das „Café des Westens“, jener berühmte Treffpunkt von Künstlern aller Art, der im Volksmund nur vielsagend „Café Größenwahn“ hieß.
Es war eine Welt im Aufbruch rund um den Kurfürstendamm, schnell, unkonventionell und risikofreudig. Adjektive, die auch den Bankier Fedor Berg bestens charakterisieren. Seine Idee: ein neues Konzept für eine noble Herberge. Im amerikanischen Stil sollten die Schönen und Reichen nächtigen, in mehrzimmerigen luxuriösen Suiten residieren, Butler natürlich inklusive. Wo – natürlich am Kurfürstendamm. Genau in der Mitte zwischen KadeWe und Lunapark errichtete er seinen riesigen Boarding-Palast. Damit – da war er sich sicher – würde er auch das bisher erste Hotel am Platz, das Adlon im „alten“ Berlin, ausstechen.
Die ungeheure Farbenpracht des Boarding-Palasts im Jahr 1913
Das imposante Gebäude des Boarding-Palasts ist noch immer Blickfang am Kudamm. Es ist heute unter dem Namen „Haus Cumberland“ bekannt. Die Geschichte dieses Baus, von Fedors Projekt und seinem schnellen Bankrott habe ich bereits in meinem Post „Der Traum des Fedor Berg“ ausführlich beschrieben. Jetzt habe ich einige seltene Bilder erwerben können, die die luxuriöse Innenausstattung des Boarding-Palasts in ihrem ursprünglichen Zustand im Jahr 1913 zeigen. Zu sehen sind einige der repräsentativen Gesellschaftsräume im Erdgeschoss des Hauses. Bemerkenswert: Ausstattung und Design der „American Bar“ oder des „Grill-Rooms“ zeugen nicht nur vom angelsächsischen Konzept, das sich Berg zum Vorbild nahm. Sie sind auch ein Beleg für den kosmopolitischen Geist, der damals den Kudamm inspirierte und der so ganz im Gegensatz stand zu dem erzkonservativen Prunk in Berlins alter Mitte.
Was mich aber ganz besonders fasziniert, ist die originale Farbenpracht der Einrichtungen. Denn die Bilder sind nicht nachkoloriert. Vielmehr handelt es sich um echte Farbaufnahmen nach dem Lumiére-Verfahren. Mit den von den Lumiére-Brüdern bereits 1904 entwickelten Autochrom-Photoplatten war es erstmals möglich, wenn auch sehr aufwändig, Farbfotografien zu machen. So ermöglichen diese Bilder uns auch heute noch einen einmaligen Einblick in die intensive Farbenwelt der wohl eloquentesten Bleibe im einstigen Wilden Westen Berlins.